Teilprojektskizze v. Koppenfels-Spies


Wirtschaftsordnung und soziale Gerechtigkeit

Herausforderungen für die soziale Marktwirtschaft

Der Beitrag des Sozialrechts

1. Allgemeines

Politische und gesellschaftliche Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit werden im demokratischen Rechtsstaat in erster Linie mit Hilfe des Sozialrechts umgesetzt. Während in Rechtsgebieten wie dem Arbeitsrecht und dem sozialen Mietrecht hauptsächlich ein strukturelles Ungleichgewicht zwischen an sich gleichberechtigten Parteien des Privatrechts ausgeglichen werden soll, verfolgt das Sozialrecht einen weit darüber hinausgehenden Anspruch: „Aufgabe des Sozialrechts ist es, die grundlegenden Wertvorstellungen des Grundgesetzes über die Würde des Menschen (Art. 1 Abs 1 GG) und über den sozialen Rechtsstaat (Art. 20 Abs 1 und Art. 28 Abs 1 GG) in die Rechtswirklichkeit umzusetzen. Sozialrecht ist daher längst nicht mehr nur das Recht zur Abwendung sozialer Bedürftigkeit oder Not. Es soll auch positiv zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit beitragen und die hierfür notwendigen Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen bereitstellen (§ 1 Abs. 1 SGB I).“.

Soziales Recht und spezifischer Sozialrecht sind also die staatlichen Gestaltungsmittel, um die Ergebnisse der Wirtschaftsordnung (des Marktprozesses) so zu steuern und umzulenken, dass soziale Gerechtigkeit verwirklicht wird. Von besonderer Bedeutung ist daher die Frage, was im Bereich des Sozialrechts unter sozialer Gerechtigkeit zu verstehen ist. Angesichts der Bandbreite des Sozialrechts vom Sozialhilferecht über das Entschädigungsrecht bis hin zur Ausbildungsförderung und zum Sozialversicherungsrecht, liegt die Vermutung nahe, dass im geltenden Sozialrecht unterschiedliche, sich möglicherweise sogar widersprechende Gerechtigkeitsmodelle verwirklicht sind. Die Aufgabe des sozialrechtlichen Beitrags wird es sein, diese Gerechtigkeitskonzeptionen herauszuarbeiten.

2. Verfassungsrechtliche Grundlagen

Für den Topos der sozialen Gerechtigkeit ist die Bestimmung des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG) von zentraler Bedeutung. Das Sozialstaatsprinzip wird als Staatszielbestimmung verstanden. Es unterfällt den „Ewigkeitsverbürgungen“ des Grundgesetzes (Art. 79 Abs. 3 GG), ist also selbst der Möglichkeit der Verfassungsänderung entzogen. Der staatliche Gesetzgeber ist somit auf das Ziel einer Schaffung sozialer Gerechtigkeit verpflichtet. In der Terminologie des Bundesverfassungsgerichts umfasst der aus dem Sozialstaatsprinzip fließende Regelungs- und Gestaltungsauftrag den Ausgleich der sozialen Gegensätze und die Schaffung einer gerechten Sozialordnung. Diese Formulierung scheint für verschiedene, ggf. auch nebeneinander bestehende Gerechtigkeitsvorstellungen offen zu sein. Als konkrete aus dem Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit dem Menschenwürdeprinzip des Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitete Handlungspflicht des Staates wird die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums betrachtet. Im gemeinsamen Forschungsprojekt wird eine Aufgabe des Sozialrechts darin bestehen, den Begriff des Sozialstaats mit Hilfe der Erkenntnisse der anderen Disziplinen näher zu konkretisieren und die sich aus dem Sozialstaatsprinzip ergebenden Gestaltungsvorgaben an die anderen Disziplinen zu vermitteln. Einer näheren Untersuchung bedarf der Wandel im Verständnis des Sozialstaats vom Wohlfahrtsstaat hin zum „aktivierenden Sozialstaat“ seit den späten 1990er Jahren.

Neben dem Sozialstaatsprinzip wird das Sozialrecht unter anderem durch die Grundrechte der Eigentumsgarantie aus Art. 14 GG (Sicherung von Rentenanwartschaften), der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG (Arbeitsförderungsrecht und Grundsicherung für Arbeitsuchende), durch den Schutz der Familie aus Art. 6 GG und die Gleichheitssätze geprägt. Aus einzelnen Gewährleistungen ergibt sich ein konkreteres Bild, auf welchen Wegen der Gesetzgeber zum Ziel der sozialen Gerechtigkeit kommen darf und kann.

3. Der Einfluss des Europarechts

Klärungsbedürftig ist des Weiteren der Einfluss des Europarechts auf die Gestaltung des Sozialrechts und damit auch auf das Verständnis der sozialen Gerechtigkeit. Neben den Koordinierungsregeln zur Sozialpolitik im EG-Vertrag selbst (Art. 136-145 EGV) gründet sich der europäische sozialrechtliche Gestaltungsbedarf vor allem in der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 Abs. 2 EGV). Ursprünglich standen in der europäischen Dimension daher Regelungen zum koordinierenden Sozialrecht im Mittelpunkt (VO (EWG) 1408/71). Auch wirtschaftspolitische Regelungen des Gemeinschaftsrechts haben Einfluss auf das Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland. So spielt das Grundprinzip des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs eine große Rolle bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Sozialleistungen. Die Vorschriften über den freien Wettbewerb (Art. 81 ff. EGV) haben wiederum großen Einfluss auf die zulässigen Gestaltungsformen für Sozialversicherungsträger. Die Frage der Realisierung sozialer Gerechtigkeit im positiven Recht bekommt somit eine europäische Dimension, die das im Forschungsprojekt zu untersuchende Spannungsverhältnis deutlich in sich trägt.

4. Sozialrecht

Im unterverfassungsrechtlichen Recht stellt sich die Frage, welche Gerechtigkeitsvorstellungen durch den Gesetzgeber im geltenden Recht realisiert wurden. Die im philosophischen Beitrag entwickelten Begriffe (Chancengerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit, Ergebnisgerechtigkeit) können in Beziehung zur tatsächlichen Rechtslage gesetzt werden. Entsprechendes gilt für Erkenntnisse über tatsächliche Gerechtigkeitsvorstellungen aus der empirischen Sozialforschung.

a) Sozialversicherungsrecht

Das Sozialversicherungsrecht bietet sich auf Grund seiner herausragenden praktischen und wirtschaftlichen Bedeutung in besonderem Maße als Untersuchungsgegenstand an. Die Sozialversicherung ist ein gegenüber dem Fürsorgerecht gehobenes Modell sozialer Sicherheit. Die für die Sozialversicherung markantesten Gerechtigkeitskategorien werden im Hinblick auf das Verhältnis von Beitragspflichten und Leistungsanrechten unter den Stichworten Äquivalenzprinzip und Solidarprinzip diskutiert. In jüngerer Zeit wurden mehrfach Versuche unternommen, deren Bedeutung und Verhältnis untereinander zu klären.

Im Einzelnen erscheint das Sozialversicherungsrecht hinsichtlich seiner Gerechtigkeitskategorien heterogen: Während die Entgeltbezogenheit der Rentenhöhe im Rentenversicherungsrecht eher dem Prinzip der Chancen- und Leistungsgerechtigkeit zu entsprechen scheint, kommen beispielsweise durch die Anrechnung von Kindererziehungszeiten im gleichen Sozialversicherungszweig Elemente der Umverteilung oder auch ein näher zu bestimmender Gesichtspunkt der „Familiengerechtigkeit“ hinzu. Letztere spielen zum Beispiel auch im Krankenversicherungsrecht in Form der beitragsfreien Familienversicherung und der Krankengeldleistung bei Erkrankung des Kindes eine besondere Rolle.

Es bietet sich an, die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit im Sozialrecht anhand von Beispielen aktueller Reformgesetzgebungen und Entwicklungen zu betrachten. Diesbezüglich wäre an die Reform der Altersvorsorgesysteme zu denken mit den Tendenzen zur Stärkung des privaten Vorsorgeelements und der zunehmenden Berücksichtigung intergenerationeller Gerechtigkeitsfragen. In der Gesetzlichen Krankenversicherung vollzieht sich der Gerechtigkeitsdiskurs besonders augenfällig an der Fragestellung Bürgerversicherung versus Gesundheitsprämie, wobei im Leistungsrecht durch Restriktionen und Selbstbeteiligungen auch die Frage eines medizinischen Existenzminimums aktuelle Bedeutung besitzt. Besonders interessant für das Forschungsprojekt dürfte die zunehmende Implementierung von wettbewerbsorientierten Steuerungsmodellen in der Gesetzlichen Krankenversicherung sein, zuletzt durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007.

b) Grundsicherung für Arbeitsuchende und Sozialhilfe

Die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) und die Sozialhilfe (SGB XII) bilden die letzten Auffangsysteme der sozialen Sicherung in Deutschland. Ihr Leistungsumfang ist daher der Gradmesser dessen, was jeweils als vom Staat zu gewährleistende Mindestbedingung für die Sicherung der physischen Existenz und als unverzichtbarer Kern der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben angesehen wird (in verfassungsrechtlicher Terminologie: das soziokulturelle Existenzminimum, vgl. BSG 27.3.2008 B 14/11b AS 15/07 R). Maßgebliche Gerechtigkeitskategorie ist hier die Bedarfsgerechtigkeit. Im Grundsicherungsrecht macht sich der konzeptionelle Wandel vom Wohlfahrtsstaat zum „aktivierenden Sozialstaat“ besonders deutlich bemerkbar. Unter Gerechtigkeitsaspekten stehen in diesem Bereich die Fragen des Verhältnisses von Pauschalierung und Einzelfallgerechtigkeit bei der Regelleistung und des Verhältnisses zwischen Leistung und Wohlverhalten im untersten sozialen Sicherungssystem im Vordergrund.

c) Andere Gebiete des Sozialrechts

Auch andere Sozialrechtsgebiete, die auf speziellere Lebenssituationen ausgerichtet sind oder nur eng begrenzte Teile der Bevölkerung umfassen, eignen sich zur Untersuchung bzw. Darstellung weiterer Gerechtigkeitsdimensionen. So lässt sich dem Recht der
(steuerfinanzierten) Familienleistungen (Kinder- und Elterngeld) eine näher zu bestimmende Kategorie der „Familiengerechtigkeit“ zuschreiben, die sich nicht einfach in der Gewährung des Existenzminimums erschöpft.

Daneben können die Rechtsgebiete der Jugendhilfe (SGB VIII) und der Ausbildungsförderung (BAföG) als Beispiele für die Gewährung von Chancengleichheit oder Chancengerechtigkeit von Interesse sein.

Erlenkämper in: Erlenkämper/Fichte, Sozialrecht, Köln 2008, 6. Aufl, S. 1

BVerfGE 59, 231

BVerwGE 1, 159; Höfling in: Sachs, Grundgesetz 3. Aufl. 2003, Art. 1 Rn. 25

EuGH NJW 1998, 1769 (Decker); EuGH NJW 1998, 1771(Kohll)

Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, Tübingen 2000 (insbesondere S. 71 ff.); Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, München 2000 (insbesondere S. 193 ff.)

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